Erstversorgung von Wildwaisen
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Erstversorgung von Wildwaisen

Text Larissa Uhe
Bild Ültje Hachmann

Wenn jetzt Anfang Mai die ersten Frühjahrsblüher wieder verblühen und sich das saftig grüne Blätterdach unserer Buchenwälder langsam schließt, beginnt für viele unserer heimischen Wildtiere die Brut- und Setzzeit.

Es ist eine schöne und ganz besondere Zeit, in der man sich noch leiser und rücksichtsvoller in Wald und Feld verhalten sollte. Das gilt auch für unsere vierbeinigen Begleiter wie Hund und Katze. In dieser sensiblen Zeit gibt es leider auch immer wieder traurige Momente. Die Jungtiersterblichkeit ist oft sehr hoch und viele Tierkinder überleben die ersten Wochen nicht. Aber das ist Natur: Von dem Tod des einen, lebt ein anderer. Und nur so kann ein Ökosystem, welches aus vielen ineinandergreifenden Interaktionen besteht, funktionieren. Natürliche Selektion ist ein wichtiger Bestandteil. Diejenigen, die zu schwach für ein Leben in der Natur sind, werden aussortiert. Manch einen trifft das hart, doch hier sollte man der Natur ihren Lauf lassen. Das Konzept hat seit Millionen von Jahren funktioniert. Probleme bereitet dabei nun leider allzu oft der Mensch. Wenn Elterntiere angefahren werden und der Nachwuchs zurück bleibt oder Spaziergänger vermeintlich verwaiste Jungtiere unwissend einsammeln, kann ein weiteres Eingreifen des Menschen durchaus sinnvoll sein.

Wann brauchen Jungtiere Hilfe? Rehkitze und junge Feldhasen sind Paradebeispiele für Findeltiere, die oftmals keine(!) Hilfe benötigen. Sie kommen schon fertig ausgebildet mit Fell und offenen Augen auf die Welt. Die Mutter legt ihre Kinder meist einzeln an vermeintlich sicheren Orten ab und lässt sie allein, um keine Aufmerksamkeit auf das Jungtier zu lenken. Eine Feldhäsin kommt beispielsweise nur in der Morgen- und Abenddämmerung zum Säugen ihrer Jungtiere. Den Rest des Tages sitzt der Nachwuchs gut getarnt in der Sasse. Bei Rehkitzen ist es ähnlich, sie liegen versteckt im hohen Gras und warten auf die nächste Fütterung. Eigentlich fallen sie so kaum auf, vor allem da sie auch in den ersten Tagen geruchlos sind. Doch es kommt immer wieder vor, dass sie zufällig von Spaziergängern beziehungsweise noch häufiger von deren Hunden entdeckt werden. Dann sollte man den Hund sofort zurückhalten und das Tier in Ruhe lassen. Es ist vollkommen normal, dass die Mutter nicht bei ihrem Jungtier ist. Sie wird sich auch nicht zeigen, solange Menschen in der Nähe sind. Solche Jungtiere benötigen keine Hilfe.

Foto: Alena Steinbach

Anders sieht es aus, wenn Jungtiere kränklich und orientierungslos herumirren. Wenn ein Rehkitz lautstark fiept oder ein sehr kleiner Feldhase nicht in der Sasse sitzt, sondern auf der Straße umher hoppelt, ist das meist ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Hier ist ein kritischer zweiter Blick nötig. Aus ausreichend großer(!) Entfernung, sollte beobachtet werden, ob die Mutter nicht doch noch zurückkehrt. Jungtiere von Füchsen oder Dachsen sind manchmal auf ihren ersten Erkundungstouren allein außerhalb des Baus anzutreffen. Dies bietet ebenfalls keinen Anlass zur Sorge. Bedenklich ist es erst, wenn beispielsweise ein einzelner Fuchswelpe auf der Straße herum läuft. Dann sollte man wiederum die Situation für kurze Zeit beobachten, ob die Fähe ihren abtrünnigen Jungspund nicht doch noch einsammelt. Ist dies nicht der Fall, kann in Absprache mit dem Jagdausübungsberechtigten eine Aufnahme in menschliche Obhut erfolgen. Eventuell weiß dieser auch, ob vor kurzem in seinem Revier ein Muttertier beispielsweise bei einem Autounfall zu Tode gekommen ist. Leider kommt es häufiger vor, dass nach einem Verkehrsunfall die Jungtiere verwaist zurück bleiben oder Muttertiere aus anderen Gründen tot aufgefunden werden. Auch dann ist es wieder eine Einzelfallentscheidung, die bei jagdbarem Wild nur zusammen mit dem zuständigen Jäger getroffen werden darf. Bei Arten, die in Familienverbänden leben, kommt es nämlich manchmal vor, dass Verwandte sich der Jungtiere annehmen. Wenn die Jungtiere groß genug sind, kann auch unter Umständen draußen geeignetes Futter bereitgestellt werden.

Wildtierstationen stehen in solchen Fällen gerne beratend zur Seite und können die Aufzucht übernehmen, falls dies nötig sein sollte. Grundsätzlich lassen sich hier jedoch keine Pauschalaussagen treffen. Eine Entscheidung ist immer abhängig von Art und Alter der Tiere, den Fundumständen sowie den örtlichen Gegebenheiten. Entgegen der landläufigen Meinung ist das Fachwissen um die Aufzucht von Wildtieren mittlerweile so umfangreich, dass fast alle heimischen Arten in menschlicher Obhut erfolgreich aufgezogen und wieder ausgewildert werden können.

Foto: Alena Steinbach

Häufig passiert es, dass Jungtiere, insbesondere Feldhasen, von Hund oder Katze gebracht werden. Auch wenn sie zunächst äußerlich unverletzt wirken, können sie in den meisten Fällen nicht zurückgesetzt werden. Im Speichel von Hund und Katze ist eine Vielzahl an Bakterien enthalten, die schon bei nicht sichtbaren Mikroverletzungen übertragen werden können. Insbesondere das Bakterium Pasteurella multocida führt innerhalb kürzester Zeit zu Infektionen, die ohne Behandlung immer tödlich verlaufen. In solch einem Fall ist daher eine Behandlung mit einem speziellen Antibiotikum für mindestens sieben Tage nötig. Um dies zu vermeiden, sollten gerade in der Brut- und Setzzeit Hunde unbedingt an der Leine geführt werden. Ebenso empfiehlt es sich im Sinne der Wildtiere zu Hochzeiten wenn möglich den Freigang der Katzen einzuschränken.

An dieser Stelle sei noch die Sache mit dem Anfassen erwähnt. Seit langer Zeit hält sich die Behauptung, dass ein Muttertier seinen Nachwuchs nicht mehr annehmen würde, wenn dieser von Menschen angefasst wurde. Grundsätzlich ist es natürlich richtig, dass Wildtiere nicht angefasst werden sollen. Zum einen, weil es einfach keine Streicheltiere sind, zum anderen, weil das Risiko besteht, dass das Jungtier von der Mutter verstoßen wird oder der Geruch Beutegreifer aufmerksam macht. Dennoch kommt es leider immer wieder vor, dass Jungtiere trotz der Warnung angefasst werden, was jedoch nicht zwangsläufig in einer Handaufzucht enden muss. Der Mutterinstinkt vieler Wildtiere ist nicht zu unterschätzen! Eine Ricke sucht manchmal auch bis zu zwei Tagen nach ihrem Kitz. Tiere, die also versehentlich angefasst wurden, sollte man vorsichtig mit Gras und Erde abreiben und umgehend an den Fundort zurücksetzen. Dabei bitte ebenfalls aus ausreichend großer Entfernung beobachten oder nach einiger Zeit wieder kommen und kontrollieren, ob die Rückführung erfolgreich war.

Foto: Alena Steinbach

Wenn Hilfe benötigt wird, wie sollte diese aussehen?

Ist nun die Entscheidung getroffen, die Jungtiere in menschliche Obhut zu nehmen, sind ein paar Dinge zu beachten, die im Prinzip für fast alle Arten von Findeltieren gelten. Als erstes sollte man jedes Tier sehr behutsam aber gründlich auf Verletzungen wie Knochenbrüche oder Wunden untersuchen. Gerade wenn es wärmer wird, legen Fliegen schnell ihre Eier in offene Wunden und Körperöffnungen geschwächter Tiere. Wenn dann die Maden schlüpfen fressen sie das Tier von innen auf, darum sollte man Fliegeneier und Maden schnellstmöglich mit Hilfe einer Pinzette oder einer Zahnbürste absammeln. Bitte keine chemischen Mittel gegen Parasiten verwenden oder wenn, nur in Absprache mit erfahrenen Pflegern, da nur sehr wenige Produkte für junge Wildtiere geeignet sind. Ganz wichtig für das Findeltier ist vor allem Wärme. Die Bauchseite des Tieres sollte sich nicht deutlich kühler anfühlen als die eigene Hand. Um ein Tier zu wärmen, kann man auf regulierbare Heizmatten oder Wärmflaschen zurückgreifen. Diese sollten etwa handwarm sein. Das Tier sollte nach Möglichkeit selbst entscheiden können, welche Temperatur angenehm ist und ausweichen können, wenn es ihm zu warm wird. Rotlicht ist in der Wildtierpflege nicht zu empfehlen, da es die Tiere austrocknet, was bei geschwächten Tieren mehr Schaden als Nutzen mit sich bringen kann.

Erst wenn das Tier aufgewärmt ist, kann man langsam beginnen, den Flüssigkeitshaushalt wieder aufzufüllen. Dies ist wirklich essentiell: Wenn das Tier nicht richtig warm ist, darf weder getränkt noch gefüttert werden! Jede Tierart hat gewisse Ansprüche, auf die hier nicht in ausreichendem Umfang eingegangen werden kann, darum ist eine Absprache mit erfahrenen Pflegern immer empfehlenswert. Zum Rehydrieren genügt zunächst frisches Trinkwasser, auch warmer (nicht heißer) Fencheltee wird gerne genommen. Je nach Zustand des Tieres kann dies aus einer flachen Schale angeboten werden, oftmals ist das Tier jedoch so geschwächt, dass es gefüttert werden muss. Auch hier gibt es für jede Tierart unterschiedliche Futterspritzen, -flaschen und Sauger. Wichtig ist immer, dass sich die Tiere nicht verschlucken und nichts in die Nase gelangt. Bei stark dehydrierten Tieren kann der Tierarzt eine Infusion verabreichen. Wenn das Tier stabil ist, ist es Zeit für die erste Fütterung. Wenige Tage alte Waisen benötigen gegebenenfalls noch Kolostrum (Biestmilch). Dieses ist ebenso wie die Aufzuchtsmilch artspezifisch. Für Rehkitze eignet sich beispielsweise Schaf- oder Ziegenmilch. Es gibt mittlerweile einige hochwertige Aufzuchtsmilchpulver, die unter anderem über Tierarztpraxen zu beziehen sind. Das Pulver kann mit Wasser oder Fencheltee angerührt werden. Die Temperatur darf dabei maximal 40 °C betragen, um wertvolle Stoffe nicht durch die Hitze zu zerstören. Bitte jeweils die Zubereitungsempfehlung des Herstellers beachten. Auf keinen Fall dürfen Kuhmilch oder Kuhmilchprodukte wie Kaffeesahne oder Kondensmilch verwendet werden! Dies führt zu schweren Unverträglichkeiten und Darmproblemen und ist für die Aufzucht von Wildtieren absolut ungeeignet.

Nach der Wahl der richtigen Aufzuchtsmilch ist der richtige Fütterungsabstand zu beachten. Auch dieser variiert von Art zu Art. Die meisten jungen Säugetiere müssen regelmäßig im Abstand weniger Stunden gefüttert werden – rund um die Uhr! Haben die Tiere ein gewisses Alter erreicht, kann der Abstand vergrößert und zusätzliches artgerechtes Futter angeboten werden.

Es empfiehlt sich, während der Pflege ein Pflegeprotokoll zu führen, in dem Fundumstände, Verletzungen, Fütterungsmengen, das Gewicht des Tieres usw. vermerkt werden. Regelmäßige Gewichtskontrolle sowie Konsistenz und Farbe des Kots können Aufschluss über den Zustand des Tieres geben, daher sollte man immer ein Auge darauf haben. In dem Protokoll wird auch jede Gabe von Medikamenten notiert. Katzenopfer benötigen für mindestens sieben Tage ein spezielles Antibiotikum, das in den meisten Fällen oral verabreicht werden kann. Das hier beschriebene Vorgehen soll nur einen Einblick in den Umfang der Wildtieraufzucht geben und häufig gemachte Fehler verhindern. Neben einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen, verlangt eine Aufzucht enorm viel Zeit und Geld. Tierärzte sind entgegen der weitläufigen Meinung nicht verpflichtet, Wildtiere umsonst zu behandeln. Zum Zeitpunkt der Aufnahme des Jungtieres sollte man sich bereits Gedanken um das weitere Vorgehen machen. Ist das Tier nach erfolgreicher Aufzucht groß genug, kann man es nicht einfach wieder in den Wald setzen, sondern sollte es fachkundig in einem ausreichend großem Auswilderungsgehege auf das Leben in der Natur vorbereiten. Manche Arten wie Wildschweine und Wildkaninchen dürfen in Deutschland nicht ausgewildert werden, auch hier sind frühzeitige Gedanken zur späteren Unterbringung ratsam.

Aus diesen Gründen ist eine Übergabe oder Kooperation mit einer Wildtierstation immer in Betracht zu ziehen. Die Aufzucht und Pflege von Wildtieren wird weder im veterinärmedizinischen oder biologischen Studium noch in der Tierpfleger- oder Jagdausbildung ausreichend behandelt. Wildtierstationen können dagegen auf langjährige Erfahrung, fachlichen Austausch und Fortbildung zurückgreifen und stehen gerne mit Rat und Tat zur Seite. Oft arbeiten sie in Kooperation mit einem Tierarzt und können geeignete Medikamente und Behandlungsmaßnahmen empfehlen. Dies ist vor allem nötig, wenn die zur Aufzucht aufgenommenen Jungtiere bereits seit einiger Zeit unterversorgt sind.

Foto: Sandra Reitenbach

Wer es dennoch selbst übernehmen möchte, muss sich bewusst sein, dass Wildtiere wild sind und bleiben sollen. Es sind keine Kuscheltiere und die Aufzucht gehört nicht in Kinderhände. Ebenso sind Haustiere strikt von Wildtieren zu trennen! Die natürliche Scheu muss erhalten bleiben, daher sollte man auch den Kontakt zu Menschen frühzeitig auf ein Minimum reduzieren. Kontakt zu etwa gleichalterigen Artgenossen ist in einer artgerechten Aufzucht essentiell. Haustiere sind kein geeigneter Ersatz! Abgesehen von Arten, wo dies nicht erlaubt ist, hat die artgerechte Auswilderung immer oberste Priorität. Wer Wildtiere aufzieht, sollte sich im eigenen Sinne und im Sinne von Haus- und Wildtieren im Vorfeld umfangreich über Krankheiten insbesondere Zoonosen informieren und entsprechende Schutzmaßnahmen treffen.

Rechtliches zur Wildtierhilfe

Bei der Aufnahme von Wildtieren ist eine Vielzahl an Gesetzestexten zu beachten, die diesen Bereich tangieren. Die wichtigsten seien hier in Kürze genannt. Wer ein Wildtier aufziehen möchte, dem empfiehlt sich unbedingt ein Blick in die Originaltexte. Grundsätzlich darf man in Deutschland keine Wildtiere aufnehmen, dies ist unter anderem in § 44 des Bundesnaturschutzgesetzes geregelt. § 45 (5) BNatSchG erlaubt allerdings eine Ausnahme für verletzte, hilflose oder kranke Tiere, um sie gesund zu pflegen und nur so lange, wie es unbedingt nötig ist. Zudem muss die Aufnahme den zuständigen Behörden gemeldet werden, in manchen Fällen wird eine Genehmigung benötigt.

Foto: D. Rebstock

Diese Ausnahmeregelung gilt allerdings nur vorbehaltlich jagdrechtlicher Vorschriften. Das bedeutet, dass bei jagdbarem Wild der Jagdausübungsberechtigte ein Mitspracherecht hat und bei jeder Aufnahme verständigt werden muss (Bundesjagdgesetz § 1 und 2). § 22a (1) des Bundesjagdgesetzes bezieht sich auf schwerkrankes Wild. Dies ist unverzüglich zu erlegen, es sei denn – und dies ist wichtig – es besteht die Möglichkeit, das Tier zu fangen und angemessen zu versorgen. Da Fang und Versorgung bei verwaisten Jungtieren in der Regel kein großes Problem darstellen, kann in den meisten Fällen von einem Abschuss abgesehen werden. § 28 BJagdG ist wichtig für alle, die Frischlinge und Wildkaninchen aufnehmen, denn diese Arten können und dürfen nicht wieder ausgewildert werden und müssen den Bestimmungen entsprechend untergebracht werden. Bei Schwarzwild ist auch an die landesrechtlichen Vorschriften zur Meldepflicht bei der Tierseuchenkasse zu denken, diese ergibt sich aus dem Tiergesundheitsgesetz (§ 20). § 36 (2) 2. BJagdG weist ebenfalls auf die länderspezifischen Vorschriften über das Aufnehmen, die Pflege und die Aufzucht von verletzten oder kranken Wildes und dessen Verbleib hin. Zu guter Letzt sei noch § 2 des Tierschutzgesetzes erwähnt, der jeden, der ein Tier betreut, dazu verpflichtet für eine artgerechte Unterbringung, Pflege und Ernährung zu sorgen.

Alles in allem wird hier hoffentlich deutlich, dass die Aufzucht und Pflege von Wildtieren neben Zeit und Geld ein enorm umfangreiches Fachwissen zu tierpflegerischen, biologischen, medizinischen und rechtlichen Aspekten erfordert. Dafür gibt es Wildtierstationen, die natürlich für jede Unterstützung dankbar sind. Hier muss jeder selbst schauen, was die beste Lösung für die Tiere ist: Dies kann eine Übergabe sein oder eine Aufzucht in Kooperation mit geschulten Fachleuten.

Das A und O ist ein jedem Fall eine kompetente Erstversorgung! Wenn die oben genannten Punkte beachtet werden, bekommt die auch jeder hin, der sich informiert und etwas guten Willen zeigt. Mensch und Tier werden es ihm danken!


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