Ryan pliert mit zusammengekniffenen Augen durch sein Fernglas. Regentropfen prasseln auf sein Gesicht, ich sehe seine Halsschlagader hastig auf und ab wippen. Die Waffe halte ich seit einer gefühlten Ewigkeit aus dem Hochsitzfenster. Mein Blick richtet sich durch das Zielfernrohr. Tief durchatmen. Ich fühle mich wie mein tschechisches Lieblings-Aschenbrödel aus der allseits beliebten und bekannten Weihnachtsschnulze, die am Schloss an der Freitreppe steht und sich fragt: mach ich‘s, mach ich‘s nicht, mach ich‘s…?
Ich frage mich das, weil ich im Gegensatz zu meinen mitreisenden Lieblings-Damen relativ wenig Jagdglück habe, also keins um genau zu sein. Wahlweise vergesse ich die Munition und sitze dann unbewaffnet in einem Rudel Damwild auf eine Armlänge Abstand oder ich habe überhaupt keinen Anblick und wenn doch, dann nur das Wild, das nicht frei ist.
Lange Rede, kurzer Sinn, ich MUSS diese Gelegenheit nutzen, ich werde keine zweite Chance bekommen, ICH MACH‘S! Das Stück steht auf etwa 180 m mit dem Haupt verborgen hinter einem Baum, ich sehe nur die Keulen. Ein Schritt und es ist sowieso verschwunden. Ich blinzle durch das Zielfernrohr und erstarre, als der Sika sich dreht und plötzlich breit in die andere Richtung äugend auf der Schneise steht.
Mein Zeigefinger, der die ganze Zeit über gerade quer über dem Abzugsbügel lag, krümmt sich und findet den Weg in Richtung Abzug. Es gilt. Der Schuss bricht, der Spießer springt flüchtend über die Schneise in den Wald.
Zu den Regentropfen auf meinem Gesicht gesellen sich Tränen. Gut, dass das nicht so auffällt, wer will schon am ersten Abend die blonde, dusselige Heulsuse aus Deutschland sein. Ich war sicher, dass ich gut abgekommen bin, aber gut, ich hatte es versucht, warum sollte es hier anders sein, als zu Hause. Ich höre noch die Worte meines Pirschführers „better safe than sorry“…
Ryan blickt mich an und schon sprudelt aus ihm heraus: „Bist du gut drauf gewesen, wo meinst du, hast du getroffen, meinst du, du hast überhaupt getroffen, der Spießer hat überhaupt nicht gezeichnet, hast du dich sicher gefühlt, hast du getroffen?“
Eine Zigarettenlänge später stapfen wir hintereinander über einen matschigen Trampelpfad in Richtung Anschuss. Gebetsmühlenartig wiederholt Ryan seine Fragen. Je mehr ich über meinen Schuss nachdenke, umso sicherer bin ich mir: der Spießer MUSS liegen.
Der Anschuss spricht seine eigene Sprache. Zu einer nicht unerheblichen Menge Lungenschweiß finden wir auch dazugehörige Stücke. Damit ist das Stück sicher nicht mehr weit. Es scheint, als entspanne sich auch mein irischer Mitjäger etwas. Wir folgen der Schweißfährte und finden meinen Spießer nach etwa 40 m auf der nächsten Rückegasse.
Was für ein unbeschreibliches Glück. Was für eine Möglichkeit! Und das passiert wirklich mir!