Abends berichtete ich unseren Jagdherren detailliert über das Gesehene. Die Antwort war eindeutig: „Geh am besten Morgen direkt noch einmal dorthin und versuch das Kitz zu erlegen...!“ Klare Worte, klare Mission und gleichzeitige Bestätigung meines Bauchgefühls. Der Plan für den nächsten Tag stand also fest und dazu die große Hoffnung, dass das Kitz noch einmal dort vorbeikommt. Ich war sehr froh, dass ich meinen inneren Schweinehund nachmittags besiegt hatte und doch rausgegangen war, denn sonst hätte ich das Bockkitz nicht entdeckt.
Der nächste Tag war gekommen. Ein wirklich wunderschöner Tag. Strahlendblauer Himmel, klirrende Kälte, Schnee... Kaiserwetter. Nachdem ich meinen Mann an seinem Pirschweg abgesetzt hatte, machte ich mich wieder mit all meinem Equipment auf den Weg zur Kanzel. Für diesen Tag entschieden wir uns sehr früh aufzubaumen, denn wir wollten keine Stunde vergeuden, und ich wollte das Bockkitz nicht verpassen. Außer einem sehr starken Fuchs war erst einmal nichts zu sehen. Von ihm konnte ich ein paar sehr schöne Fotos machen. Eine meiner großen Leidenschaften: Wild in seinem natürlichen Lebensraum fotografieren.
Danach passierte erstmal zwei Stunden nichts. Ich genoss die Stille und den glitzernden Schnee, und im Geiste ging ich nochmal meine Geschenkeliste für Weihnachten durch. Man will seinen Liebsten in der schönsten Zeit des Jahres ja eine Freude machen. Auch ich hatte einen langen Wunschzettel. Als frischgebackener Jungjäger gibt es ungefähr tausend Dinge, die man gerne hätte.
Um ca. 16 Uhr traten dann zwei Böcke auf den Wildacker. Beide im Saft, energisches und sicheres Auftreten. So plötzlich die Böcke da waren, so plötzlich sprangen sie auch wieder nach rechts in den Wald ab. Ich nahm das Glas hoch und sah in den Büschen die Umrisse eines weiteren Stückes. Siehe da, eine einzelne mir gut bekannte Ricke. Sie erkenne ich unter Tausenden wieder. Zart, langbeinig, schon fast filigran könnte man sie bezeichnen. Im Sommer, als wir noch keinen Jagdschein hatten, hatte ich schon mal das Vergnügen sie wunderschön abzulichten.
Die zwei Böcke waren nun also weg, die Ricke stand auf dem Acker und äste. Ich schrieb Holger, dass die einzelne Ricke wieder da ist. Da wir die Freigabe für einzelne Ricken und Rickenkitze hatten, sagte er ich könne ja mal überlegen, ob ich nicht die Ricke erlegen möchte. Aber ich wollte lieber auf das Bockkitz warten. Nach ein paar Minuten äugte die Ricke nach links, in die Richtung aus der sie selbst gekommen war. Wieder konnte ich einen Umriss erkennen. Eine weitere Ricke trat heraus, gefolgt von ihrem Rickenkitz.
Oh, Rickenkitz... auch eine Möglichkeit. Aber nein, ich möchte warten! Keine Minute später kam weiter hinten ein weiteres Stück auf den Wildacker. Ein sehr kräftiger Bock, der jetzt schon, im Gegensatz zu all den anderen Böcken, die ich bisher zu dieser Zeit gesehen hatte, halb Lauscher hoch geschoben hatte. Ich war völlig begeistert! Ein Bild von einem Bock... wie gemalt sah er aus und er stolzierte regelrecht über den Wildacker. Während ich ihn im Glas bewunderte, sah ich hinter ihm erneut Bewegung. Wieder trat eine Ricke heraus, gefolgt von einem munteren Bockkitz. Während ich mich fragte, ob das nicht vielleicht die Ricke ist, zu der das humpelnde Bockkitz gehört, hörte ich entfernt ein fiepen und gleichzeitig kam über den gleichen Weg der Nachzügler!